Gustav Heinemann kritisiert den Militärseelsorgevertrag.
Ein Interview kurz bevor er Bundespräsident wurde.


Die folgende Abschrift entspricht im youtube-Video der Passage 30:36 bis 33:50.

Günter Gaus (Reporter): Während der nationalsozialistischen Zeit gehörten Sie zur Bekennenden Kirche, die sich gegen die Übergriffe des NS-Regimes bewußt und entschieden zur Wehr setzte, anders als andere Teile der Kirche. Seither sind Sie, auch von Kirchenämtern her, ein führendes Mitglied der Evangelischen Kirche geblieben, wenn Sie auch in der Nachkriegszeit gelegentlich unter Beschuß gerieten und nicht wiedergewählt wurden, als Präses etwa. Gelegentlich wird heute gesagt, die Evangelische Kirche habe ihren Frieden mit den Verhältnissen und den herrschenden Gewalten der Bundesrepublik gemacht. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen. Ich möchte von Ihnen wissen, ob nach Ihrer Vorstellung die Protestanten Westdeutschlands die Ideale, die sie nach 1945 hatten, im Stich gelassen haben, ob sie faule Kompromisse geschlossen haben.

Heinemann: Von ihrer Geschichte her, also von der Reformation her, hat die Evangelische Kirche immer eine Nähe zum Staat gehabt, sie war ja Staatskirche. Als solche ist sie weithin entstanden, und sie ist bis 1918 formell Staatskirche geblieben. In der Weimarer Zeit war das Bedrückende, daß die Evangelische Kirche aus der Rückbesinnung auf die königlich-preußische Zeit, auf die schwarz-weiß-rote Zeit des Patriarchats nicht herauskam. Durch das Dritte Reich hindurch ist aber auch die Evangelische Kirche weithin auf ganz andere Wege gekommen. Nach 1945 hat es eigentlich niemandem vorgeschwebt, das noch mal wieder so aufleben zu lassen, da spielten natürlich auch die gemeinsamen Erlebnisse der Bedrängung eben in diesem Kirchenkampf eine Rolle.

Gaus: Hat sich das geändert?

Heinemann: Ja, das hat sich geändert, aber es hat sich, würde ich sagen, nicht durchgreifend genug geändert, bis etwa hin zum Übergang in eine völlige Selbständigkeit bei der Kirche …

Gaus: Hin zu einer staatsfernen Kirche?

Heinemann: Ja, hin zu einer größeren Distanzierung zum Staat. Ich habe gar nichts dagegen, daß Staat und Kirche sich bei uns hier freundlich gegenüberstehen. Das sollten sie im Grunde genommen überall. Aber trotzdem müßte von der Kirche her ein größerer Anstoß zur Weiterentwicklung, na ja, wir sagen, zum Fortschritt hin erfolgen. Anstatt daß man sich selbst mit eingebunden sieht in das, was nun mal da ist, was nun mal geworden ist.

Gaus: Worin hat Sie Ihre Kirche nach 1945 enttäuscht?

Heinemann: Enttäuscht ... Das ist eben dieses zu nahe Dranbleiben an einer bestimmten politischen Partei. Diese tendenzielle Nähe zu der sich christlich nennenden Partei war ja auch in der Evangelischen Kirche immer sehr stark im Schwange. Das hat sich gelockert. Mittlerweile wählen Tausende von Pfarrern eben nicht mehr diese sich christlich nennende Partei. Ich würde es gerne noch lebendiger, noch etwas flotter in dieser Richtung vorangehen sehen. Ein besonderer Kummer bleibt für mich immer, daß die Evangelische Kirche nach diesem Krieg den Militärseelsorgevertrag abgeschlossen hat. Es ist ja nicht einleuchtend, meine ich, daß die Seelsorger der Soldaten Pfarrer im Staatsamt sein müssen. Das könnte wirklich auch anders sein. Sie hätten also kirchliche Pfarrer bleiben sollen. Das wäre mir lieber gewesen. Das ist so ein konkreter Vorgang in dieser Gesamtlinie.

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