Vorschläge zur Reform der evangelischen Militärseelsorge
Loyalitätskonflikte zwischen kirchlichem und militärischem Auftrag

Deutsches Pfarrerblatt, November 2013, 617-620
von: Sylvie Thonak

Das jüngst geäußerte und diskutierte Ansinnen der Militärseelsorge, die Kirchengemeinden mögen für die Trauerfeiern gefallener Soldaten das Hausrecht in ihren eigenen Räumen an die Militärpolizei abtreten, macht einen Reformbedarf der Militärseelsorge deutlich. Sylvie Thonak setzt sich in ihrem Beitrag für solch eine Reform ein. Sie hält dafür die Zeit für reif und formuliert zehn Vorschläge.1

Evangelische Gotteshäuser als militärische Sperrbezirke?

»Kirche soll Hausrecht an Feldjäger abgeben«2 titelte die »Hannoversche Allgemeine Zeitung« Anfang Juni 2013 und schrieb dazu: »Einen ungewöhnlichen Schritt empfiehlt die hannoversche Landeskirche Gemeinden, wenn sie in ihren Kirchen einen Trauergottesdienst für gefallene Soldaten aus dem Afghanistan-Krieg abhalten. In diesem Fall sollten sie das ›Hausrecht an die Feldjäger der Bundeswehr‹ übertragen – ›aus Gründen der Gefahrenabwehr und um Störungen vermeiden zu können‹. (...) So steht es in einem Informationsschreiben des evangelischen Militärbischofs Martin Dutzmann, das das hannoversche Landeskirchenamt am 16. Mai verschickte.«3 Die »Frankfurter Rundschau« stellt dazu die Frage: Will man »Militärangehörige, die in evangelischen Kirchen dem Pastor das Wort entziehen oder kritische Kirchenmitglieder aus dem Gottesdienst entfernen? Theoretisch wäre das möglich«4. Kein Wunder, dass es Proteste gab.

Die »taz« zitiert das Friedensbüro Hannover: »›Das Hausrecht der Kirche und das darauf beruhende Asylrecht fußen auf dem ‹Heiligtumsasyl› und gehören zu den ältesten kulturellen Errungenschaften der Menschheit überhaupt‹. Das Kirchenasyl habe unzähligen Menschen das Leben gerettet, weil es vom Staat unabhängig sei. Mit der Übergabe des Hausrechts an die Bundeswehr würde ›ohne Not eine Grenze überschritten, die selbst in der DDR und in der Nazizeit nicht angetastet wurde‹, erklärt der Verein.«5 Dabei ist unklar, ob die Feldjäger der Bundeswehr das Hausrecht überhaupt anstreben, denn die »taz« meldet: »Bei der Pressestelle der Bundeswehr zeigte man sich überrascht von der Annahme, dass die Feldjäger das Hausrecht in der Kirche beanspruchten. Eine verbindliche Auskunft konnte man dazu nicht geben.«6

Der Vorgang wirft Fragen auf: Warum bemüht sich die evang. Militärseelsorge darum, dass Gotteshäuser vorübergehend zu einer Art militärischem Sperrbezirk werden und dass Kirchengemeinden ihr Hausrecht befristet an die Militärpolizei abtreten? Die Militärpolizei hat nur Befugnisse gegenüber Soldaten bzw. innerhalb eines militärischen Sicherheitsbereichs. Schutz des Verteidigungsministers ist Aufgabe der Bundespolizei und nicht der Militärpolizei. Auch der Kirchentag tritt das Hausrecht nicht an die Bundeswehr ab, wenn der Verteidigungsminister einen Gottesdienst besucht oder einen Vortrag hält. Wenn ein Staatsakt absehbar gefährdet sein könnte, wäre die Frage, ob eine Kirche ein geeigneter Ort für ihn wäre.

Trennung von kirchlichen Trauerfeiern und Staatsakten

Zwischen der Friedensarbeit der EKD und der evang. Militärseelsorge gibt es schon lange Kontroversen um den Ort für Staatsakte bzw. um die Liturgie der kirchlichen Trauergottesdienste für Soldaten. An der bisherigen Praxis wurde kritisiert, dass Staatsakte für gefallene Soldaten in Kirchen stattfinden; der Gegenvorschlag lautete: Ein Staatsakt anlässlich des Todes von Soldaten einer Parlamentsarmee gehöre um der politischen Verantwortung willen an den Ort, wo der Einsatz beschlossen wurde, also in den Deutschen Bundestag.7 Kirchliche Trauerfeiern unter Mitwirkung der Militärseelsorge und Staatsakte sollten künftig räumlich klar getrennt sein und Militärgeistliche sollten Gäste und nicht Mitwirkende bei solchen Staatsakten sein.8 Neben dem ethischen Argument, dass das Parlament als Ort der politischen Verantwortung auch Ort des Staatsaktes sein sollte, wurde ein theologisch-liturgisches Argument genannt: »Eine bewaffnete Eskorte gehört nicht in eine Kirche.«9 Kritik gab es ferner daran, dass bei solchen Staatsakten Politiker vom Ambo sprechen.

Nun äußern Militärgeistliche immer wieder die Befürchtung, dass sich bei einer räumlichen Trennung von kirchlicher Trauerfeier und Staatsakt das Fernsehen weniger für ihre Gottesdienste interessieren könnte. Die Beerdigung eines gefallenen Bundeswehrsoldaten aus meinem Heimatort hielt z.B. der evang. Gemeindepfarrer, den Fernsehgottesdienst jedoch leiteten hochrangige Militärgeistliche. Vermutlich gäbe es weniger Medienpräsenz im Gottesdienst bei einer räumlichen Trennung von Staatsakt und zentraler kirchlicher Trauerfeier. Soldatenfamilien sehen das anders. Unter ihnen erlebt man es als ambivalent, dass die Militärseelsorge vor allem offizielle Fernsehgottesdienste abhält, aber die Trauergottesdienste bei den Bestattungen vor Ort an die Gemeindepfarrer delegiert werden.

Der Militärbischof Dutzmann sieht hier kein Problem. Er erklärte in seinem Bericht für die EKD-Synode 2012 zum Problem der Trauerfeiern für gefallene Soldaten: »Die Kirche Jesu Christi hat den Auftrag, die Traurigen zu trösten und feiert Gottesdienst. Der Staat muss die Soldaten, die in seinem Auftrag ihr Leben gelassen haben, ehren und seinen Dank für den geleisteten Dienst zum Ausdruck bringen. Dass Staat und Kirche in gemeinsamer Feier Abschied nehmen, hat sich – das hat die Trauerfeier in Detmold im Juni 2011 eindrücklich gezeigt – bewährt.«10

Man könnte meinen, dass es sich bei dieser Frage um eine geringfügige Angelegenheit handelt, die man pragmatisch lösen sollte. Aber die Militärseelsorge hat das symbol-politische Signal unterschätzt, das vom Ansinnen ausging, das kirchliche Hausrecht bei Trauerfeiern an das Militär abzutreten. Hier stellt sich eine Grundsatzfrage, die immer wieder bei Diskussionen um die Reform der Militärseelsorge im Raum steht: Nach welchen Normen richtet die Militärseelsorge ihr Handeln aus? Offiziell sind es kirchliche Grundsätze. Die Befürchtung aber ist, dass militärische Erwartungen und Vorstellungen ihr Handeln bewusst oder unbewusst bestimmen. Das Ansinnen, die Kirchengemeinden mögen ihr Hausrecht in ihren eigenen Räumen an die Militärpolizei abtreten, ist wenig geeignet, diese Befürchtungen zu zerstreuen. Es macht aber m.E. vor allem einen Reformbedarf der Militärseelsorge deutlich. Wenigstens setzt sich die Verfasserin dieser Zeilen für solch eine Reform ein. Vielleicht ist die Zeit dafür reif.

Wie Ines-Jacqueline Werkner in Soldatenseelsorge versus Militärseelsorge11 zeigte, gab es bereits im Zusammenhang der deutschen Vereinigung Reformansätze für die evang. Militärseelsorge, um die Eigenständigkeit der Militärseelsorge als kirchliche Arbeit mit Soldaten(familien) sicherzustellen. Leider wurden diese Ansätze v.a. aus Gründen der Besitzstandswahrung nicht konsequent umgesetzt. Derzeit befindet sich die Bundeswehr ohnehin in einem Reformprozess von der Wehrpflichtarmee zur weltweit agierenden Berufsarmee. Soldaten sind häufiger im Auslandseinsatz und leben auch im Inland in Fernbeziehung mit ihren Familien. Daher ist es wichtig, auch die Strukturen und Ziele der Militärseelsorge neu zu diskutieren. Die Grundfrage ist dabei immer wieder: Wie kann die evang. Militärseelsorge den Friedensauftrag der Kirche unter Soldaten eigenständig und frei von staatlichen Einschränkungen als kirchliche Arbeit an und mit Soldaten(familien) ausüben? Wie kann sie dabei Loyalitätskonflikte zwischen militärischem und kirchlichem Auftrag vermeiden? Wie kann die Ausrichtung allen kirchlichen Handelns auf den Frieden zum Ausdruck kommen? Dabei wird es wichtig sein, alle Gliedkirchen der EKD in dieser Umbruchsphase in die Diskussion um die Reformnotwendigkeit der evang. Militärseelsorge einzubeziehen.

In diesem Sinne formuliere ich im Folgenden zehn Vorschläge zur Reform der evang. Militärseelsorge. Dabei beginne ich mit dem Problem der Trauerfeiern, da wir von ihm ausgegangen sind.

1.  Zentrale kirchliche Trauergottesdienste für getötete Soldaten sollen zeitlich, räumlich und liturgisch klar von zentralen Staatsakten getrennt werden
Es geht dabei nicht nur um die Autonomie der Kirche. Es sollte vielmehr im Interesse der Kirche liegen, den Schutz der Trauernden in einem Gottesdienst nicht dem Medieninteresse zu opfern. Die Befürchtung von Militärgeistlichen, dass das Fernsehen das Interesse an ihren Gottesdiensten verliert, wenn der zentrale Staatsakt vom zentralen kirchlichen Trauergottesdienst getrennt werden soll, kann nicht schwerer wiegen als der Schutz trauernder Angehöriger und das Selbstbestimmungsrecht der zivilen Kirchengemeinden. Aus der Sicht von Soldatenfamilien sollten die Militärgeistlichen trauernden Soldatenfamilien am Grab beistehen. Nicht selten wird gerade diese Aufgabe an zivile Gemeindepfarrer delegiert.

Wenn das Hausrecht in Kirchen für Staatsakte und Trauergottesdienste an die Bundeswehr abgetreten wird, entscheidet die Bundeswehr indirekt darüber, wer an den Trauergottesdiensten teilnehmen darf und wer nicht: Zwischen den zentralen Staatsakten und den zentralen Gottesdiensten gab es bisher keine Pause. Der Staat hat zweifellos das Recht, das Protokoll und die Sitzordnung für Staatsakte vorzugeben. Ist es aber angemessen, dass er damit auch über Teilnahme, Nicht-Teilnahme und Sitzordnung eines evang. Gottesdienstes entscheidet? Mir wurde folgendes Beispiel geschildert: Einen zentralen Trauergottesdienst für gefallene Soldaten, der zeitlich und räumlich mit dem Staatsakt verknüpft war, durften Personen nicht besuchen, die einem Gefallenen persönlich nahe standen. Weil Protokoll und Sitzordnung des Staatsaktes ihre Teilnahme nicht vorsah, konnten sie nicht zum Gottesdienst in die Kirche hinein. Jedoch: Evang. Gottesdienste sind öffentlich und sollten es auch bleiben.

2. Die Freiheit zum prophetischen Wächteramt bei der Seelsorge und friedensethischen Bildung von Soldaten soll durch einen vom Staat unabhängigen kirchlichen Status der Militärseelsorge abgesichert werden
Derzeit wirkt der Staat bei der Besetzung bzw. im Extremfall bei der Absetzung von Militärgeistlichen als Staatsbeamten mit. Bevor der Militärseelsorgevertrag von 1957 auch in den neuen Bundesländern Anwendung fand, nahmen Soldatenseelsorger in den ostdeutschen EKD-Gliedkirchen ihren Seelsorgedienst als EKD-Kirchenbeamte und nicht als Staatsbeamte wahr. Mit diesem Modell hatte man inhaltlich sehr gute Erfahrung gemacht.

Zu den Grundsätzen des protestantischen Kirchenverständnisses gehört, dass ein gewählter Kirchengemeinderat zusammen mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer die Gemeinde leitet und dass eine Gemeinde bei der Besetzung einer Pfarrstelle beteiligt wird. Anders ist das in der Militärseelsorge. Seit ihrer Gründung 1957 bis heute entspricht die Struktur der Militärseelsorge den streng hierarchischen militärischen Strukturen. An der Spitze der Militärseelsorge12 stehen der Militärbischof auf Augenhöhe mit dem Verteidigungsminister und der Militärgeneraldekan analog einem Abteilungsleiter im BMVg. Es gibt keinen gewählten Kirchengemeinderat aus Soldaten(familien) an der Basis und keine Synode.

Bereits vor Jahren stellte Wolfgang Huber unter kirchenrechtlichem Gesichtspunkt fest, dass »hier ein bestimmter Bereich kirchlicher Tätigkeit nicht von den Grundsätzen evangelischen Kirchenrechts, sondern von den Forderungen und Interessen des Staates aus rechtlich geordnet wurde. Dies widerspricht insbesondere der 3. Barmer These, die durch die Grundordnung der EKD rezipiert worden ist.«13 In der 3. Barmer These wird ein unaufgebbarer Einklang zwischen der Botschaft und der Ordnung der Kirche14 als Maßstab für die Gestalt der Kirche gefordert. An der Struktur der Militärseelsorge kritisierte Huber: »Mit der Ordnung der Militärseelsorge hat der Staat jedoch in den inneren Verfassungsrechtskreis der Kirchen eingegriffen; bei der Bestellung der Militärpfarrer wirkt er in ausdrücklichem Widerspruch gegen Art. 137, Abs. 3 WRV an der Verleihung kirchlicher Ämter mit.«15

Auch der Beirat für die Militärseelsorge, der vom Rat der EKD für seine eigene Beratung und zur Beratung des Militärbischofs berufen wird, stelle kein synodales Vertretungsorgan dar; entgegen einer anders lautenden Behauptung habe dies16 der Beirat selbst in einem Gutachten ausdrücklich festgestellt. Während die Mitglieder des Rats der EKD von der EKD-Synode gewählt werden, werden die Mitglieder des EKD-Beirats für die Militärseelsorge nicht demokratisch gewählt, sondern berufen. Die Namen der Mitglieder des Rats der EKD sind öffentlich17 bekannt. Anders verhält es sich mit den Namen der Mitglieder des EKD-Beirats für die Militärseelsorge. Diese werden selbst auf schriftliche Bitte nicht an Soldaten18 mitgeteilt. Wie steht es um Transparenz und basisdemokratische Legitimation? Der jährliche Bericht des Militärbischofs für die EKD-Synode wird meist nur schriftlich eingebracht. Eine Diskussion des Berichts ist in der Regel nicht vorgesehen.

3. Nebenamtliche evangelische Soldatenseelsorge soll als Teil eines Dienstauftrags in der Mitte von Kirche und Gesellschaft verankert werden anstelle eigengesetzlicher Militärseelsorge
Das wurde 2002 in einer Protokollnotiz zur Auslegung des Militärseelsorgevertrages19 auch so angestrebt, um die ostdeutschen Gliedkirchen zu gewinnen. Umgesetzt wurde es im Westen nicht in großem Stil, eher wurden nebenamtliche Stellen abgebaut. Das Argument nebenamtliche Soldatenseelsorger könnten nicht in den Auslandseinsatz, weil sie in den Gemeinden fehlen und keine Bundesbeamte sind, lässt sich durch die katholische Praxis widerlegen. Diese haben im Ausland auch nebenamtliche Soldatenseelsorger20. Katholische Pastoralreferenten als Soldatenseelsorger sind m.W. keine Staatsbeamten, sondern haben einen Gestellungsvertrag als Angestellte ihrer Diözese.

4. Es soll eine gemeinsame Seelsorge für NGOs, Entwicklungshilfeorganisationen, medizinisches Personal, Diplomaten, Bundespolizisten und Soldaten in Kriegs- und Krisengebieten eingerichtet werden statt einer isolierten Berufsgruppenseelsorge an Soldaten
Die biblische Botschaft von Frieden und Versöhnung gilt allen Menschen. Es wäre sachlich angemessen und gerecht, wenn es bei deutscher Beteiligung in Krisen- und Kriegsgebieten eine gemeinsame evangelische oder vielleicht sogar ökumenische Seelsorge für NGOs, medizinische Fachkräfte, Entwicklungshilfeorganisationen, Diplomaten, Bundespolizisten und Soldaten gäbe. Diese Seelsorge für Krisengebiete könnte vor Ort auch interkulturelle und interreligiöse Kontakte knüpfen und so einen eigenständigen Beitrag zur Friedensarbeit in Krisenregionen leisten.

5. Evangelische Friedensethik soll sichtbarer werden anstelle der aktuellen Verpflichtung zu einer konfessions- und religionsneutralen Haltung im berufsethischen Unterricht
Der kirchliche Friedensauftrag kann nur in Freiheit erfüllt werden, wenn die unterrichtenden Militärgeistlichen nicht zu konfessions- und religionsneutraler Haltung verpflichtet werden. Berufsethische und friedensethische Qualifizierung der Soldaten im LKU durch Geistliche sollte so umgestaltet werden, dass die Kirche und nicht der Staat Veranstalter ist. »Denn im Gegensatz zum Amt des Theologieprofessors an staatlichen Universitäten und des Religionslehrers an staatlichen Schulen stellt das Amt des Militärpfarrers (...) nicht ein konfessionell gebundenes Staatsamt, sondern ein kirchliches Amt dar.«21

6. Friedensethische Kompetenzen sollen examens- und laufbahnrelevant gestaltet werden

Wenn friedensethische Kompetenzen sowohl für Militärgeistliche als auch für Soldaten prüfungs- oder laufbahnrelevant werden, wird dies eine sinnvolle Aufwertung der friedensethischen Bildung aus evangelischer Sicht. Ebenso soll Friedensethik fester Bestandteil der theologischen Ausbildung werden. Dabei ist wichtig, dass nicht nur (angehende) Militärgeistliche oder in der zivilen Friedensarbeit Tätige, sich mit Friedensethik befassen. Wenn die Arbeit der Militärseelsorge in der ganzen Kirche akzeptiert werden soll, braucht sie ein kirchliches Umfeld, das sie begleitet, sie ggf. kritisch-konstruktiv hinterfragt und darin unterstützt, ihr Handeln am Evangelium sowie an kirchlichen Grundsätzen und Zielen auszurichten.

7. Friedensethische Bildungsangebote sollen immerwährend institutionalisiert werden

Die Hauptaufgabe des Arbeitskreises ethische Bildung in den Streitkräften (AEBIS) in der evang. Militärseelsorge ist nach Auskunft des Evang. Kirchenamtes für die Bundeswehr die Beratung des Militärbischofs und nicht die Durchführung regelmäßiger friedensethischer Bildungsangebote für alle Soldaten und ihre Familien. Die kath. Militärseelsorge hat mit ihrem Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften (ZEBIS) am Institut für Theologie und Frieden (in Hamburg) eine kirchliche Institution geschaffen, wo Soldaten regelmäßig die Chance auf eine Auseinandersetzung mit der kath. Friedensethik haben. Es ist zu wünschen, dass die evang. Militärseelsorge eine vergleichbare Einrichtung schafft.

8. Aus dem Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit ergibt sich, dass Ressourcen gerecht auf alle Handlungsfelder kirchlicher Friedensarbeit (einschließlich der Militärseelsorge) verteilt werden

Laut Militärseelsorgevertrag trägt der Staat die Sach- und Personalkosten22 für die Militärseelsorge. Historisch hat das folgenden Hintergrund23: Im Gegensatz zur Weimarer Republik werden Soldaten, die Mitglied einer evang. Landeskirche sind, heute zur Kirchensteuer herangezogen. In der Weimarer Republik vertrat der Reichswehrminister die Auffassung, dass dann jeder Grund dafür entfalle, dass das Reich für die Kosten der Militärseelsorge aufkomme. Heute stehen kirchliche Finanzmittel der Militärseelsorge zusätzlich zur Verfügung. Nach Auskunft der EKD24 sind dies für die ca. 90 bis 100 evang. Militärpfarrstellen 13.815.200 € zusätzlich zur staatlichen Finanzierung.

Ein Vergleich mit der kirchlichen Friedensarbeit im zivilen Bereich liegt nahe: »Nach meinen Informationen sind 2010 rund 36 Prozent der Kirchensteuern der Soldaten an den Militärhaushalt geflossen, 64% bei der Landeskirche geblieben. 2011 erhöhte sich der Anteil an den Militärhaushalt auf 45%, 55% verblieben bei der Landeskirche. (…) 2011 waren im landeskirchlichen Haushalt 380.000 Euro unter dem Stichwort Friedensarbeit verbucht, im EKD-Haushalt waren es eine Million Euro.«25 Die evang. Landeskirche in Württemberg trat für das Jahr 2012 ca. 1,4 Mio. Euro Soldatenkirchensteuern26 an die evang. Militärseelsorge ab.

9. Die Betreuung der 70-90% Soldatenfamilien in Fernbeziehungen soll ermöglicht werden

Zurzeit leben 70-90% der Soldatenfamilien meist unfreiwillig in Fernbeziehungen in verschiedenen Bundesländern. Laut Militärseelsorgevertrag27 gehören zum Seelsorgebereich der Militärpfarrer nicht nur die Soldaten selbst, sondern auch deren engste Familienangehörige, also Ehefrauen und Kinder, die dem Hausstand am Standort angehören. Im Militärseelsorgevertrag ist jedoch nicht geregelt, welches Militärpfarramt für (Ehe-)Partner/innen und Kinder von Soldaten/Soldatinnen zuständig ist, wenn – wie häufig – der familiäre Hauptwohnsitz nicht am Bundeswehrstandort, sondern weit entfernt und z.B. in einem anderen Bundesland liegt.

Die Bundestagsabgeordnete Evers-Meyer ist Mitglied im Verteidigungsausschuss. Sie bringt die Probleme auf den Punkt: »Heute pendeln etwa 70 Prozent der Soldaten zwischen Standort und Familie. Das bringt erhebliche familiäre Belastungen mit sich. Die Folgen sind leider viel zu hohe Trennungs- und Scheidungsraten.«28 Darüber hinaus heißt es in dem Bericht: »Die Abgeordnete fordert deshalb eine umfassende Überarbeitung der bestehenden Seelsorgevereinbarungen zwischen der Bundeswehr und den Kirchen. (...) ›Zum Teil stammen diese Vereinbarungen noch aus den 50er Jahren. Die Lebenswirklichkeit in der Bundeswehr hat sich aber inzwischen völlig verändert. Wir brauchen weniger offizielle Repräsentation und dafür mehr individuelle Unterstützung für den einzelnen Bundeswehrangehörigen, seine Angehörigen und Lebenspartner – und zwar dort, wo die Betroffenen tatsächlich leben.‹, so Evers-Meyer abschließend.«29

Hauptamtliche in der Militärseelsorge sagen, dass die Mindestzahl aus dem Militärseelsorgevertrag –»Für je eintausendfünfhundert evangelische Soldaten wird ein Militärgeistlicher berufen«30 – in der Praxis auf die Hälfte, also auf ca. 800 evang. Soldaten abgesenkt wurde. Die wohl seit längerer Zeit in die Praxis umgesetzte Absenkung der Mindestsollgröße zur Einrichtung einer Militärpfarrstelle, könnte genutzt werden, um die freien Kapazitäten zur Betreuung von Soldatenfamilien in Fernbeziehung einzusetzen oder man könnte sie für andere Zielgruppen wie z.B. die friedensethische Bildungsarbeit unter Bundespolizisten und NGOs in Krisengebieten nutzen, wo es keine vergleichbare Pastorationsdichte gibt.

10. Mehr nebenamtliche und hauptamtliche Seelsorger sollen an der Basis Soldaten und deren Familien betreuen anstelle einer überbordenden Hierarchie mit einer Fülle an offiziellen Repräsentanten

Auch der zweite Punkt, den MdB Evers-Meyer angesprochen hat, Bedarf der Reform: Es gebe zu viel offizielle Repräsentation und zu wenig individuelle Unterstützung für den einzelnen Soldaten, seine Angehörigen und Lebenspartner an der Basis.

Wenn man die Stellenstruktur der evang. Militärseelsorge gemäß Bundeshaushalt 2012 betrachtet, dann ist im Vergleich zum zivilkirchlichen Bereich das Verhältnis von Dekanstellen (A16/A15) zu normalen Standortpfarrstellen (A14/A13) bemerkenswert: Neben zwei B6-Stellen (Generalvikar/Generaldekan) gibt es gemäß Bundeshaushalt31 in der evang. und kath. Militärseelsorge zusammen 58 Dekane auf 149 Militärpfarrer und Verwaltungsbeamte im Kirchenamt für die Bundeswehr. Genauer: 14 Leitende Dekane mit A16, 44 Dekane mit A15, 142 Pfarrer bzw. Oberräte mit A14 und 7 Pfarrer bzw. Räte mit A13. Für die ca. 90 bis 100 evang. Standortpfarrämter stehen in Berlin 53 Mitarbeiter/innen zur Verfügung: 37 im Evang. Kirchenamt für die Bundeswehr, einer staatlichen Behörde, und weitere 16 Mitarbeiter/innen, die den kirchlichen Haushalt für die evang. Seelsorge für die Bundeswehr (HESB) verwalten. Zusätzlich werden die ca. 90 evang. Standortpfarrämter noch von vier regionalen Militärdekanaten in den Wehrbereichen mit jeweils einem leitenden Wehrbereichsdekan, Verwaltungsbeamten und Schreibkräften verwaltet. Eine Verschlankung dieser überbordenden Verwaltung zugunsten einer Stärkung der Seelsorge an der Basis wäre sinnvoll.

Ein Vergleich mit dem zivilen Bereich liegt nahe: In der württ. Landeskirche ist im Schnitt ein Dekan32 für 30 Kirchengemeinden zuständig. Nun wird es darauf ankommen, ob die evang. Militärseelsorge und mit ihr die Synode der EKD sowie die Gliedkirchen z.B. um der Kinder und Ehepartner/innen von Soldaten bzw. um der Glaubwürdigkeit willen zu grundsätzlichen Strukturänderungen bereit sind. Eine offene Diskussion auf allen Ebenen in den Gliedkirchen der EKD ist überfällig.

Mehr Verständnis in der Öffentlichkeit?

Noch einmal sei betont: Diese Reformvorschläge zielen darauf, dass sich die Militärseelsorge erneuert. Sie hätte eine Chance, in der kirchlichen Öffentlichkeit mehr Verständnis zu finden, wenn sie sich einer Diskussion um ihre Reform öffnet. Schreiben wie das o.g. des Militärbischof Dutzmann, in denen man empfiehlt, dass die Gemeinden vorübergehend ihr Hausrecht in ihren Kirchen an militärische Stellen abtreten, sind keine guten Diskussionsbeiträge zu dieser Frage; sie schmälern das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Kirche. Dadurch bieten sie denen einen Anlass, welche die Militärseelsorge abschaffen wollen. Gleichzeitig erschweren sie die Position derer, die sich um eine Reform der kirchlichen Arbeit mit Soldaten(familien) bemühen und die im Blick auf die Wahrung der Freiheit der Kirche besorgt sind.

Anmerkungen:

1 Vortrag auf der Tagung Der Friedensauftrag der Kirche und die evangelische Militärseelsorge der württ. Friedensbeauftragten am 8.4.2013 in Stuttgart; durch Impulse aus der Diskussion bzw. um eine Einleitung ergänzt.

2 Michael Berger: Kirche soll Hausrecht an Feldjäger abgeben, www.haz.de (03.06.13).

3 Berger, ebd. Vgl. Militärbischof Martin Dutzmann: Informationen für Kirchengemeinden im Fall einer zentralen Trauerfeier für gefallene Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, undatiert.

4 Karin Dalka: Feldjäger als Hausherren unerwünscht, www.fr-online.de (05.06.13).

5 Gernot Knödler: Gottesdienste für gefallene Soldaten, www.taz.de (04.06.13).

6 Knödler, ebd.

7 Konferenz für Friedensarbeit in der EKD Säkular oder sakral? Militär und Kirche zwischen religiöser Sinnstiftung und politischer Vereinnahmung vom 24.-25.1.2012 in Mainz.

8 Vgl. Renke Brahms, epd-Dokumentation 29/12, 6f.

9 Brahms, ebd., 7.

10 Martin Dutzmann: Bericht des Bischofs für die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr auf der 5. Tagung der 11. Synode der EKD vom 4. bis 7. November 2012 in Timmendorfer Strand, EKD Geschäftsstelle der Synode, Drucksache III d / 1; S. 4.

11 Ines-Jacqueline Werkner: Soldatenseelsorge versus Militärseelsorge. Evangelische Pfarrer in der Bundeswehr, Baden-Baden 2001, 115-250.

12 Vgl. Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973, 290.

13 Huber, ebd., 269.

14 Vgl. https://www.ekd.de/glauben/bekenntnisse/barmer_theologische_erklaerung.html (27.12.12). Der Verwerfungssatz lautet: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.« (a.a.O.)

15 Huber, a.a.O., 288.

16 Vgl. Huber, a.a.O., 291.

17 Vgl. https://ekd.de/ekd_kirchen/rat/rat_der_ekd.html (01.04.13).

18 Mir wurde Einsicht in ein solches Gesuch gewährt.

19 Ines-Jacqueline Werkner: Soldatenseelsorge – eine Reform vor ihrem Scheitern. Der ostdeutsche Sonderweg der evangelischen Soldatenseelsorge (1990-1996), 2002; vgl. www.frieden-schaffen.de (01.04.13).

20 Vgl. www.kmba.militaerseelsorge.bundeswehr.de (21.12.12).

21 Huber, a.a.O., 288.

22 Vgl. Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge (abgekürzt: MSV), Art. 2, Abs. 2.

23 Vgl. Huber, a.a.O., 289.

24 Vgl. www.ekd.de/kirchenfinanzen/finanzen/ 622.html (01.06.13).

25 Auskunft des Sprechers der evang. Landeskirche in Württemberg per e-Mail am 18.12.2012 auf Anfrage vom 7.8.2012.

26 Gemäß Auskunft des bei der Kirchenleitung der evang. Landeskirche in Württemberg für die evang. Militärseelsorge zuständigen Kirchenrats vom 18.9.2013 flossen diese Mittel an den Haushalt der evang. Seelsorge in der Bundeswehr (HESB), aus dem Zuschüsse für die evang. Arbeitsgemeinschaft Soldatenbetreuung auf Bundesebene kommen, und (v.a. die vom HESB nicht verbrauchten Mittel) z.B. an die Militärkirchengemeinde Sigmaringen sowie an die evang. Arbeitsgemeinschaft Soldatenbetreuung Baden-Württemberg.

27 MSV Art. 7, Abs. 1, Ziff. 6.

28 Karin Evers-Meyer: www.spd-whv.de/karin-evers-meyer-im-gesprach-mit-vertretern-der-militarseelsorge/ (am 21.02.12). Kurz danach auch auf der Homepage der evang. Militärseelsorge: www.militaerseelsorge.bundeswehr.de.

29 Vgl. www.spd-whv.de/karin-evers-meyer-im-gesprach-mit-vertretern-der-militarseelsorge/ (21.02.12).

30 MSV Art. 3,1.

31 Vgl. Bundeshaushalt 2012, Einzelplan 14.

32 Vgl. www.elk-wue.de/landeskirche/kirchenbezirke/ (27.08.13).