Aus der Zeitschrift VERSÖHNUNG, Oktober 2015
Ullrich Hahn: Kirche des Friedens werden – was bedeutet das?
Den folgenden Vortrag hat Ullrich Hahn, Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes (Deutscher Zweig) auf dem Impulstag zur friedensethischen Orientierung der evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Kassel für am 18. Juli 2015 gehalten. Er interpretiert damit das wichtige Diskussionspapier, das die Badische Landeskirche 2013 auf ihrer Landessynode beschlossen hatte (vgl. den Bericht von Theo Ziegler in VERSÖHNUNG 1/2014, S.16).
1.
Für eine „Kirche des Friedens“ gibt es kein vorgegebenes Modell in der Geschichte der evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Es gilt eher das Gegenteil: Im Augsburger Bekenntnis von 1530, das bis heute zu den Bekenntnisgrundlagen der lutherischen und unierten Kirchen gehört, grenzen sich die evangelischen Kirchen der Reformation ausdrücklich von den Gruppen und Gemeinden der Täufer ab, die den Kriegsdienst und den Treueeid auf die Obrigkeit verweigern. Die z.T. aus der Täuferbewegung hervorgegangenen „historischen Friedenskirchen“ (Mennoniten, Church of the Bretheren, Quäker) bilden mit ihrem sehr klaren Friedenszeugnis am ehesten noch ein gelebtes Modell für eine Kirche des Friedens, und zwar mit deutlichen strukturellen Unterschieden zu den Volkskirchen (Freiwilligkeit, Erwachsenentaufe, Autonomie der einzelnen Gemeinden, freikirchliche Selbstfinanzierung ohne staatlichen Kirchensteuereinzug). Nach dem 16. Jahrhundert wurden diese Gruppen und Gemeinden aus Deutschland vertrieben. Im Gegensatz zu England und Nordamerika hatte deshalb der religiös begründete Pazifismus auf dem europäischen Kontinent keine Heimat mehr.
Ein neues Beispiel für den Versuch, trotz volkskirchlicher Struktur inhaltliche Schritte in Richtung auf die Haltung der Friedenskirchen zu gehen, bietet die Badische Landeskirche mit ihrem landeskirchenweit diskutierten Positionspapier vom 03.04.2012 und dem von der Landessynode schließlich am 24.10.2013 verabschiedeten Diskussionspapier.
2.
In dem badischen Prozess kommt zum Ausdruck, dass es auf dem Weg zur „Kirche des Friedens“ um friedenstheologische Inhalte geht, die zum einen von der Kirche und ihren Mitgliedern ein vielfältiges Tun, zum anderen aber auch ein eindeutiges Lassen erwarten.
Im ersten Positionspapier der Badischen Kirche finden sich beide Elemente: Zum einen die biblisch theologischen Teile mit der Betonung des Ethos der Bergpredigt und der damit begründeten Absage an Krieg und militärische Gewalt; daneben auch ein umfangreicher Katalog von Aufgaben insbesondere der Friedensbildung, die in allen Bereichen der Landeskirche und allen ihren Ausbildungsstätten Eingang finden soll.
Zu diesem letzteren Katalog des Tuns gab es von Seiten der Militärseelsorge keinen Widerspruch, sondern volle Zustimmung. Das Lassen der kirchlichen Legitimation einer militärisch gestützten Politik stieß dagegen nicht nur auf den Widerspruch der Militärseelsorge, sondern auch auf viele Vorbehalte in den Bezirkssynoden. Insoweit machte sich die Landessynode schließlich das Positionspapier nicht zu eigen, wenn auch die damit zusammenhängenden Themen beharrlich weiter diskutiert werden sollen.
Nach meinem Verständnis von Lehre und Leben Jesu steht vor allem Tun aber die Umkehr, das Lassen all dessen, was Unrecht ist oder am Unrecht teil hat; dazu gehört auch die Gewalt. Erst dieses Lassen, das Nein, schafft einen offenen Raum, der mit neuen Inhalten ausgefüllt werden kann.
Das umfangreiche Bildungsprogramm von den kirchlichen Kindergärten bis zur Fortbildung hauptamtlicher Mitarbeiter in der Kirche in Richtung auf den Frieden bedarf nicht nur neuer Lehrpläne, sondern einer neuen geistig-geistlichen Ausrichtung. Denn das Ethos der Bergpredigt, die Nachfolge Jesu, ist kein bedrückender Anspruch, sondern ein Zuspruch, dass lebensförderndes Handeln möglich ist unter dem Verzicht auf Gewalt, Macht, Reichtum und Geld (all die anderen Götter, die unser Leben sonst beherrschen).
Das Lassen macht uns nicht nur gelassen; es ist auch oftmals effektiver als das Tun. Ich kann vieles gleichzeitig lassen, sogar Tag und Nacht, aber nur wenige Dinge tun. Das Lassen ist wie ein Ausatmen; es gibt Gelassenheit für das notwendige Tun. Auch in diesem Sinne ist mir Jesus ein Vorbild: nach den Evangelien macht er keinen Eindruck eines gestressten Aktivisten. Seine Stärke ist die Freiheit von den Dingen, die uns fesseln. Dies gibt ihm Zeit und Raum für das Wesentliche; er lässt sich ein auf die Not der Menschen in der Begegnung, im Gespräch. Er hat Zeit.
Umkehr bedeutet manchmal auszusteigen: wenn ich im fahrenden Zug vom ersten bis letzten Wagen 100 m gegen die Fahrtrichtung laufe, kann ich am Ende doch 100 km von dem gewünschten Ort entfernt sein. Das Verhältnis von 1 : 1000 entspricht zufällig auch dem Verhältnis der Ausgaben im Bundeshaushalt für zivile Konfliktbearbeitung einerseits und dem Militär andererseits.
3.
Im Sinne des Lassens will ich den Blick auf vier unterschiedliche Erscheinungsformen der Gewalt werfen:
a. Nach Walter Wink ist die vorherrschende Religion unserer Zeit nicht das Christentum, der Islam oder eine andere Hochreligion, sondern der Glaube an die erlösende Kraft der Gewalt. Immer wenn wir als „ultima ratio“ zur Gewalt greifen, erkennen wir sie als höchste Instanz der Hilfe an; sie wird zur vermeintlichen Kraft, die uns in den sonst nicht lösbaren Konflikten Erlösung verheißt.
Die Gewalt fordert aber nicht nur Menschenopfer, sondern entfaltet eine physische und psychische Eigendynamik: Wer auf Gewalt setzt, muss immer stärker sein als die andere Seite; Aufrüstung und Rüstungsspirale kennen keinen logischen Schlusspunkt. Der Gewalt wohnt ein Zwang zum schnellen Erfolg inne. Die Gewaltfreiheit entfaltet sich nicht nur in einem anderen Handlungs- sondern auch einem anderen Zeitrahmen.
Ein Mehr an Waffen führt aber nicht zu einem Mehr an Menschenrechten, sondern zu einem Mehr an Opfern. Auch dann, wenn die Gewalt zur Durchsetzung des Rechts eingesetzt werden soll, gewinnt am Ende der jeweils Stärkere und nicht das Recht.
Gerade dann, wenn die Gewalt erfolgreich ist, verbreitet sie die verführerische Botschaft an alle Schwachen, sich besser zu rüsten, wenn sie und ihre Interessen ernst genommen werden sollen. Das gilt gerade auch für den fortdauernden „Krieg gegen den Terror“. Die Gewalt ist das Problem, für dessen Lösung sie sich ausgibt. Kant: „Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Leute macht als er deren weg nimmt“ (Zum ewigen Frieden).
Indem die Gewalt als Lösungsmittel ständig präsent ist, auch wenn vom Vorrang ziviler Konfliktlösung geredet wird, dominiert sie auch schon im Vorfeld ihres Einsatzes die Verhandlungen: „Stellt der Einsatz von Gewaltmitteln eine ständige Handlungsoption dar, wird die Suche nach Handlungsalternativen, die auf militärische Gewalt verzichten, leicht abgebrochen. Neue kreative Wege, die dem Zweck moralisch entsprechen, tun sich oft erst auf, wenn Gewaltmittel grundsätzlich ausgeschlossen werden“ (John H. Yoder).
Jesus vertritt demgegenüber die deutliche Botschaft, dass die eingesetzten Mittel dem erstrebten Ziel entsprechen müssen: das Böse soll durch das Gute und nicht durch anderes Böses überwunden werden. Wer das Bekenntnis zu Jesus Christus ernst nimmt, kann Menschen nicht das Leben nehmen wollen. Gerade durch die Praxis der Gewaltfreiheit unterscheidet sich schließlich die Kirche von der Welt.
Dabei ist die Gewaltfreiheit weniger als Methode zur Konfliktlösung wesentlich – dies sicher auch. Sie ist noch mehr die Voraussetzung für eine dem Evangelium gemäße Konfliktlösung. Der angestrebte und selbstverständlich auch gewünschte Erfolgt steht nicht an erster Stelle, denn: der Erfolg gibt nicht recht. Und doch lässt sich sagen: wenn es in der Geschichte einen Fortschritt gibt, dann wurde er von machtlosen Außenseitern getragen, die sich oftmals in einer ähnlich aussichtslosen Situation befanden wie Jesus am Kreuz.
Ich wünsche mir, dass sich die Christen im gleichen Maß von jeder Gewalt distanzieren, wie es derzeit von den muslimischen Gesprächspartnern erwartet wird.
b.
Das Hauptproblem ist nicht die illegale Gewalt sondern ihre legale Form, die staatliche Gewalt. Das Verbrechen einzelner Menschen wird einhellig abgelehnt; bei der staatlichen Gewalt ist dies gerade nicht der Fall.
Gerade die protestantischen Landeskirchen haben seit Luthers Verdikt über den Bauernkrieg 1525 alle Formen staatlicher Gewalt jeweils zu ihrer Zeit legitimiert: Krieg und Todesstrafe, Folter im Strafprozess, die Vertreibung anders Denkender, Sklaverei und Leibeigenschaft, Konzentrationslager für politisch Oppositionelle. Durch die enge Verbindung zum Staat – bis 1918 als Teil der Staatsverwaltung – haben sie keinen Sensus für staatliches Unrecht entwickeln können. Schuldbekenntnisse gab es allenfalls im Nachhinein.
Eine Ausnahme machten nur die Kirchen der DDR; ungewollt wurden sie von Seiten des Staates in die Oppositionsrolle gedrängt und nahmen sie am Ende dann auch selbstbewusst an. Dieses Selbstbewusstsein wurde nach 1989 leider sehr schnell wieder an den Rand gedrängt. Durch diese lange, bis heute dauernde Tradition haben die kirchlichen Stellungnahmen zu Krieg und Frieden immer auch noch etwas von der früheren Funktion der Hofprediger, die aus der Position der Machthaber dachten und rieten, nicht aber als Stimme der Machtlosen und Opfer staatlicher Gewalt.
Der Bezugsrahmen nationaler Kirchen war und ist z.T. bis heute das eigene Volk, die eigene Nation. Im Licht des Evangeliums ist der Bezugsrahmen aber der gesamte bewohnte Erdkreis, d.h. die Menschheit. Der Feind steht deshalb nicht auf der anderen Seite, er ist einer von uns; deshalb gebührt ihm auch die gleiche Liebe, die wir auch sonst dem Nächsten schuldig sind.
c.
Die Infragestellung der Gewalt, auch in Form staatlicher Gewalt, bedingt ein neues Verhältnis zur Rolle der Soldaten. Selbstverständlich gilt die Liebe Gottes allen Menschen, deshalb auch denen, die Soldatenuniform tragen. Der Beruf des Soldaten ist aber nicht kompatibel mit dem Gebot der Feindesliebe und des Gewaltverzichts.
Besonders deutlich wird dies, wenn es zur Aufgabe der Militärseelsorge in der Bundeswehr gehört, berufsethischen Unterricht für Soldaten zu erteilen. Berufsethisches Verhalten wird immer an den Normen des Berufs gemessen und nicht an Leben und Lehre Jesu. Jesus aber steht auf der Seite der Unbewaffneten, auch wenn er ohne Vorbehalte und Berührungsängste mit Soldaten spricht.
Während des libanesischen Bürgerkrieges 1980 – 1985 habe ich viele arabische Bürgerkriegsflüchtlinge in deren Asylverfahren vertreten. Routinemäßig habe ich alle gefragt, zu welcher der vielen Bürgerkriegsparteien sie gehörten (Christen, Sunniten, Schiiten, Drusen, Palästinenser, Falangisten ...). Eine junge Frau antwortete mir damals: „Welche Gruppen? Es gibt nur zwei: die Bewaffneten und die Unbewaffneten“.
In den Kirchen der DDR wurde den Kriegsdienstverweigerern immerhin schon das „deutlichere Zeichen“ für die Friedensbotschaft zugesprochen; aus meiner Sicht ist die Rolle der Soldaten nicht nur ein weniger deutliches Zeichen sondern ein gegenläufiges Zeichen zur Botschaft Jesu. Kirche Christi hat (nach Bonhoeffer bei seiner Friedensandacht in Fanö 1934) die Aufgabe „ihren Söhnen (u. heutzutage auch Töchter) im Namen Christi die Waffen aus der Hand zu nehmen“, nicht durch physischen Zwang, sondern durch ein klares Wort.
d.
Die uns aufgetragene Überwindung der Gewalt umfasst auch die strukturelle Gewalt d.h. die Strukturen des Unrechts, insbesondere wirtschaftlicher Art. Auch hier geht es nicht nur um die praktische Diakonie für Menschen in Not, sondern auch um eine offene Kritik an den tödlichen Wirtschaftsstrukturen und einer immer größeren Kapitalkonzentration in den Händen weniger Reichen.
In Bezug auf die Ungerechtigkeit der Wirtschaftsstrukturen hat der katholische Papst selbst den evangelischen Kirchentag weit links überholt. Die Teilhabe an dieser Art von struktureller Gewalt betrifft uns nicht nur als einzelne, sondern auch die Kirchen, soweit sie Anleger erheblicher Geldrücklagen sind.
Dass Frieden und Gerechtigkeit zusammen gehören, muss hier nicht weiter vertieft werden. Fernando Enns hat in seinem Vortrag vor der Badischen Landessynode gesagt: „Wer den Frieden will, wer den Schutz der Verwundbarsten will, muss sich zuerst für gerechte Verhältnisse einsetzen. Damit ist ein Weg aufgezeigt, dem die Verheißung der Sicherheit innewohnt.“
4.
Wie wird Kirche Friedenskirche? Den schon zitierten badischen Prozess habe ich selbst –auch schmerzhaft- als einen mühsamen Prozess vieler Gespräche erlebt.
Wichtig war, dass am Anfang eine klare Position stand, die sich der Auseinandersetzung in den Bezirken und Gemeinden stellen musste, und nicht das bequeme „sowohl als auch“. Ich finde es auch richtig, dass die Landessynode sich das Positionspapier nicht ganz zu eigen gemacht hat, weil dies nicht der tatsächlichen Haltung der Gesamtheit der Kirchenglieder entsprochen hätte.
Letztlich kommt es auch nicht auf den Beschluss eines kirchenleitenden Organs an. „Das Wesensmerkmal des Protestantismus, der im Aufbegehren gegen klerikale Autoritäten entstand, ist eine gleichberechtigte Kommunikation. Diese wird anstelle von hierarchischer Gewalt zum Medium der Konfliktbearbeitung“ (Yoder) und entspricht damit als Weg auch dem angestrebten Ziel. Es geht um die Vermittlung von Einsicht und nicht um die Unterwerfung einer Minderheit unter die Meinung einer dominanten Mehrheit.
Es wäre auch Illusion zu glauben, dass ein kirchenleitendes Organ „ein für alle Mal“ eine verbindliche Lehraussage zum Frieden abgeben könnte; dies schafft nicht einmal der Papst.
Jede Generation wird sich erneut mit diesen Fragen auseinandersetzen und eine Meinung bilden müssen. Dies gilt z.B. auch in Bezug auf die Abschaffung der Atomwaffen. Das Wissen um ihre Herstellung wird selbst bei einer vollständigen Abschaffung bleiben. Deshalb wird auch über den Verzicht auf ihre erneute Herstellung immer wieder neu gerungen werden müssen. Nach John H. Yoder geht es auf dem Weg zum Frieden und zur Friedenskirche um Gespräch und Geduld, Geduld in Bezug auf andere Menschen aber auch auf die Ergebnisse des eigenen Tuns.
Die Glaubenden dürfen auch geduldig sein, weil die Wahrheit nicht von ihnen abhängt. Sie müssen die „Wahrheit“ nicht verteidigen, sondern können sich auf ihre Gegenüber einlassen (Yoder). Dabei bedeutet Geduld nicht, dass wir nicht sofort beginnen sollten mit dem, was wir als Recht erkannt haben. Der Glaube an die Herrschaft Gottes schützt die Christen aber davor, ihrem eigenen Handeln eine übermäßige Bedeutung beizumessen (Yoder). Dies bedeutet, die eigenen Grenzen anzuerkennen und es nicht als Niederlage zu verstehen, wenn die Welt und auch die Kirche noch nicht so sind, wie wir es uns wünschen.